Die Macht der Gewohnheiten

Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt ist. Sprüche 22,6

Ein Missionar erzählte von einem Farmer, der sich auf seinem Hof einen Geier als Wächter hielt. Damit er ihm nicht davonflog, hatte er ihn an eine Leine gebunden, wie einen Hund. So lief der Vogel den ganzen Tag im Kreis herum. Eines Tages kam ein Tierschützer vorbei und bemängelte dies. „Lass ihn los,“ sagte er. „Der hat sich an sein Umfeld gewöhnt und wird dir nicht mehr davonlaufen.“ Gesagt, getan. Der Vogel bekam seine Freiheit. Zu seinem Erstaunen lief der Geier weiterhin seine Runde, wie zuvor. Die Gewohnheit hatte ihn fest im Griff.

Salomo macht darauf aufmerksam, dass der Mensch erzogen werden muß, wenn er mit dem Leben zurechtkommen soll. Je nach Qualität seiner Erziehung entstehen Gewohnheiten, die mit der Zeit seinen Charakter formen und seine Lebensabläufe bestimmen. So sind Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit oder Treue unverzichtbare Tugenden, die von Kind an eingeübt werden müssen.

Etwa 90 Prozent unserer Handlungen werden von Gewohnheiten bestimmt; das kann auch negative Folgen haben. Unsere Lebensgestaltung verläuft dann mechanisch, anstatt dynamisch und kreativ. Im Moment erscheint alles zwar einfacher, aber wir drehen dann unsere Runde wie der Geier. Es gibt zwar immer noch viele Aktivitäten, aber keine Gestaltung und viele Worte bleiben ohne Inhalt und viele Ideen nur Träume. Sollte es dann die Situation einmal erforderlich machen, den gewohnten Pfad verlassen zu müssen, fällt es schwer, sich an einen neuen Rhythmus zu gewöhnen.

Viele fühlen sich verunsichert und überfordert. Ein klassisches Beispiel dafür gibt uns das Volk Israel. Sie hatten zwar Ägypten verlassen und mit ihren Füßen waren sie auf dem Weg in das Land der Verheißung, aber die Gewohnheiten hielten ihre Herzen zurück. In Ägypten gab es eine reiche Auswahl von guten Speisen, hier aber nur Manna. Sie waren es gewohnt, für Pharao Sklavenarbeit zu verrichten, täglich unter Druck gesetzt zu werden. Jetzt aber waren sie freie Menschen geworden und jeder durfte eigene Entscheidungen treffen. Früher war ihr Leben stumpf und inhaltslos. Jetzt aber durften sie sich mit dem Ziel ihrer Reise auseinandersetzen. Wie nahe lag es da, zu vergessen, warum sie unterwegs waren. Sie waren es gewohnt, Götzenbilder mit sich herumzutragen und diese zu verehren. Hier aber sprach ein Gott zu ihnen, den sie nicht sehen konnten. Dazu gab er ihnen Gebote, an die sie sich erst gewöhnen mussten. Ihr bisheriges Weltbild schien in Frage gestellt. Es beschlich sie eine Angst vor neuen Dimensionen.

Wie nahe lag da der Gedanke, sich in der Abwesenheit des Mose ein goldenes Kalb anzufertigen und dieses als Ersatz für den einzig wahren Gott zu verehren. Für sie war es leichter, sich an alte Traditionen zu klammern, als sich an neue Wege zu gewöhnen. Die Folgen blieben nicht aus. Niemand von ihnen erreichte das Ziel. Ihre alten Gewohnheiten erwiesen sich als stärker. Auch wir können uns an alles gewöhnen – zum Beispiel daran von Kalenderandachten und Stoßseufzern geistlich leben zu wollen oder als Zuschauer seinen Platz auf der Tribüne einzunehmen, und alles aus der Ferne zu betrachten.

Selbst Paulus wusste um seine Schwächen und schrieb: Ich züchtige meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den anderen predige und selbst verwerflich werde. 1. Kor. 9, 27

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