Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: „Siehst du diese Frau?“. Lukas7, 44
Simon hatte Jesus zu sich ins Haus geladen. Er hatte viele Fragen. Während er ein theologisches Gespräch begann, geschah das Unglaubliche: eine verrufene Frau hatte sich eingeschlichen, sich zu den Füßen Jesu gesetzt und angefangen, bitterlich zu weinen. Da sie kein Taschentuch besaß, wischte sie die Tränen mit ihren Haaren von seinen Füßen – und Jesus ließ sie gewähren. Unerhört, dachte Simon. Wäre der ein Prophet, wüsste er wer diese Frau ist und hätte sie mit Abscheu von sich gewiesen. Aber er tat es nicht. Im Gegenteil: Jesus stellte sich schützend hinter sie und begann Simon zu tadeln: Du gabst mir kein Wasser für meine Füße, sie gab ihre Tränen. Du gabst mir keinen Begrüßungskuss, sie aber küsste meine Füße, und das alles, weil sie mir Dank erweisen wollte.
Lesen wir die Berichte über Jesus, entdecken wir, dass diese Frau nicht allein dasteht. Unter vielen möchte ich Zachäus auf dem Baum erwähnen, dem Jesus seine Aufmerksamkeit zuwendet und unverzüglich bereit war, in sein Haus zu kommen oder den Mann am Teich Bethesda, den Jesus im Gewühl der Masse entdeckte und ihn gesund machte oder Nathanael unter dem Feigenbaum, der offenbar auf den Messias wartete; zum Schluss die Frau am Brunnen, mit der Jesus über das ewige Leben sprach. –
Ja, so ist unser Jesus. Der Einzelne war ihm wichtig. Besteht in unserer Zeit nicht die Gefahr, sich an Massen zu begeistern? Millionen müssen es sein, die mit dem Evangelium erreicht werden. Alles gut und richtig, aber bestehen Massen nicht aus Einzelpersonen? Wo bleibt der Einzelne?
Wenn Pastoren sich treffen, wird bald die Frage gestellt, wie groß seine Gemeinde sei. Schnell werden alle Mitglieder, einschließlich Freunde und Kinder zusammengezählt und eine Summe genannt. – Groß muss es sein und auffallend, das ist ganz im Trend unserer Zeit. Das Reich Gottes besteht aus Einzelpersonen, die der Herr in unsere Gottesdienste führt. Haben wir einmal darüber nachgedacht, dass man mitten drin sein kann und sich dennoch einsam fühlt? Dass einem die Hand zum Gruß gereicht wird, ohne dass man wissen will wie es einem geht? Können wir uns vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich aussprechen möchten, weil ihnen der Schmerz die Seele ersticken will?
Natürlich brauchen wir dann Zeit – oft sogar viel Zeit. Wer hat diese schon? Sind es nicht die vielen kleinen, und oft völlig unwichtigen Dinge, die unsere Zeit auffressen? Wir brauchen auch Interesse am Einzelnen. Wollen wir wirklich wissen, wie es ihm geht und darf er es uns sagen und wollen wir ihm in Geduld zuhören und ihn ausreden lassen?
Sind wir bereit, mit ihm die nächsten Schritte zu gehen? Sonntag ist wieder Gottesdienst. Jesus wird auch uns fragen: Siehst du die Frau, den Mann, den Jugendlichen, das Kind? Was werden wir sagen? Als Paulus, der Europa zu seinem Missionsfeld gemacht hatte, im Gefängnis saß, blieb er zwar der Visionär, aber er vergaß auch nicht die Gefangenen um sich. Sein Blick war auf einen Mann gerichtet, der seinem Herrn davongelaufen war. Er nahm sich seiner an, ließ sich seine Geschichte erzählen, unterwies ihn im Glauben und führte ihn zu Jesus. Der Tag seiner Entlassung kam. Paulus griff zur Feder und verfasste ein Empfehlungsschreiben, eigens für dessen Herrn. Er erklärte sich darin bereit, für seinen angerichteten Schaden sogar aufkommen zu wollen, möge dieser ihn nur wie einen Bruder wieder aufnehmen. Nachzulesen im Buch an Philemon.